Starkes Schneewittchen in einem schwachen Märchenspaß
Auf der einen Seite ein Mädchen, ihre Haut weiß wie Schnee, ihr Haar schwarz wie Ebenholz, auf der anderen Seite eine wunderschöne aber böse Stiefmutter und ihr magischer Spiegel. Die junge Prinzessin Schneewittchen (Lily Collins) leidet unter dem frühen Tod ihrer leiblichen Mutter scheinbar noch nicht genug, so dass ihre Stiefmutter Königin Clementianna (Julia Roberts) sie Jahre später auch noch um ihren geliebten Vater (Sean Bean) bringt. Als alleinige Herrscherin des Landes treibt die Stiefmutter das einst so frohe Volk in die Armut um ihre zahlreichen teuren Feste zu finanzieren und sperrt Schneewittchen im Schloss ein. Die Königin will sich in eiligster Kürze mit Prinz Alcott (Armie Hammer) vermählen, nur dummerweise finden Schneewittchen und der Prinz schnell gefallen aneinander. So kommt es, dass Clementianna die Prinzessin im Wald beseitigen lassen möchte. Diese kann das Herz des mit dem Mord beauftragten Dieners erweichen und flieht. Sie befreundet sich mit einer Gruppe diebischer aber gutmütiger Zwerge. Derweil kann Clementianna Alcott mit einem heimtückischen Liebeszauber doch noch zur Heirat überreden. Für Schneewittchen bricht eine Welt zusammen, doch die Zwerge ermutigen sie, für ihren Traumprinzen zu kämpfen.
Der indischstämmige Hollywood-Regisseur Tarsem Singh, bekannt für Blockbuster wie „The Cell“ und „Krieg der Götter“, drehte 2012 die kanadische Märchen-Verfilmung „Spieglein Spieglein – Die wirklich wahre Geschichte von Schneewittchen“ (Originaltitel: „Mirror Mirror“), die das Schneewittchen-Thema auf eine humorvolle und schrille Art aufgreift. Im Gegensatz zur direkten Konkurrenzproduktion „Snow White and the Huntsman“ aus dem selben Jahr, macht Singh damit eindeutig mehr richtig und weniger falsch. Schneewittchen, im Film von ihren Freunden liebevoll „Schneechen“ genannt, tritt darin mit ihrer Stiefmutter in einen Wettbewerb um denselben Mann. Erst in zweiter Instanz, so scheint es, wird auf die akuten sozialen Missstände im Königreich hingewiesen. Die Monarchin richtet ihre Amtsgewalt gegen Schneewittchen, um die unliebsame Konkurrentin aus dem Weg zu räumen. Im Verlauf der Handlung erfährt man von einem mysteriösen Spiegel, der zwar die Wünsche von Clementianna erfüllt, aber zuvor ankündigt, er wolle den Preis dafür später einfordern.
Ein wenig sinnfrei ist der Versuch, die Geschichte aus der Perspektive der Stiefmutter erzählen zu wollen, und dem Zuschauer dadurch einen alternativen Handlungsverlauf in Aussicht zu stellen, was sich dann aber am Ende als irreführend erweist. Überhaupt sind die Schwächen ziemlich leicht auszumachen: Der Film bietet nur wenig fürs Auge, mal von den (zumeist durchaus ansehnlichen) Darstellern abgesehen. Auch der Soundtrack ist so zurückhaltend, kraftlos und leicht ersetzbar, dass ich mich inzwischen fragen könnte, ob der Film überhaupt musikalische Untermalung bot – mit Ausnahme des Abspanns. Außerhalb des engen Rahmens der fest vorgegebenen Handlung erlaubt sich Singh kaum Experimente. Das führt dazu, dass der Film für eine konservative Märchenverfilmung nicht zurückhaltend genug ist und für eine Neuinterpretation nicht genug neue Ideen einbringt.
Schneewittchen wird gespielt von Lily Collins, die ihre Figur zunächst ein wenig verschüchtert, etwas später dagegen sehr selbstbewusst und kämpferisch darstellt. Auch wenn sie das gar nicht schlecht macht, steht sie ein wenig im Schatten ihrer erfahrenen Filmkollegin Julia Roberts, die aber selbst auch schon bessere Leistungen zeigen konnte. Sean Bean hat einen kurzen Auftritt als König. Darüber lässt sich nicht viel sagen, außer dass er seine Wirkung nicht verfehlt. In „Spieglein Spieglein“ sucht man schauspielerische Glanzleistungen oder ein umfangreiches Drehbuch leider vergeblich, doch schon allein da sich der Film selbst nicht ganz ernst nimmt, sieht man alles sehr viel ungezwungener, entspannter, und man setzt seine Prioritäten in Bezug auf filmische Ansprüche plötzlich ganz anders. Der Film kommt mit einer spürbaren sympathischen Bescheidenheit daher, die es mir unmöglich macht, mit dem Film allzu hart ins Gericht zu gehen. Das muss ich dem Regisseur zugutehalten.
Als überraschend witzig empfand ich auch die mit einem Quäntchen Bollywood versehene Gesangs- und Tanzeinlage zum Abspann, die man wohl als Persiflage auf den indischen Regisseur Tarsem Singh und die Filmkultur seines Herkunftslandes werten kann. Ein gelungener Gag wohl auch in den Augen jener, die dem Genre normalerweise bei jeder Gelegenheit zu entfliehen versuchen. Und eine schöne Szene, die demonstriert, dass Lily Collins singen kann, was im Hinblick auf ihren Vater – der Musiker Phil Collins – auch gar nicht sonderlich verwundert.
Fazit: Als Märchenverfilmung ist „Spieglein Spieglein“ eine an- und vor allem bodenständige Produktion, aber kein Film von hoher Qualität. Es fehlt der Handlung an Tiefe, dem Höhepunkt an Spannung, und es fehlt an jeglicher Bild- und Tongewaltigkeit. Doch man merkt, dass der Film das merkt. Singh spielt dem Zuschauer nicht vor, dass er einen großen Film geschaffen haben möchte, sondern stattdessen lieber seine Trümpfe aus: Ein dezenter aber umso begeisterungsfähigerer Humor, einige starke Charaktere, eine bezaubernde Lily Collins und last but not least Julia Roberts und Sean Bean. Setzt man seine Ansprüche nicht zu hoch an, wird man von diesem Schneewittchen kaum enttäuscht sein können.